Platons ATLANTIS - Erzählung I

Der folgende Text ist eine vollständige deutsche Übersetzung der beiden Passagen von Platon, in denen ATLANTIS beschrieben wird. Es sind die einzigen Quellen zu diesem sagenumwobenen Ort. Platon vermittelt die Geschichte (ca.400 v.Chr.) in Form von Monologen, gehalten von einem Mann namens Kritias (Platons Urgroßvater). Dieser berichtet von einer Geschichte, die der griechische Staatsmann Solon (Verwandter von Kritias Urgroßvater) bei seinem Besuch in Ägypten (ca.600 v.Chr.) hörte.

Timaios 21e - 25d

»Es gibt in Ägypten«, begann er, »im Delta, um dessen Spitze sich der Lauf des Nils teilt, einen Distrikt, den man den saitischen nennt, und die größte Stadt dieses Distrikts ist Sais, von wo ja auch der König Amasis stammte. Als Gründerin dieser Stadt gilt den Bewohnern eine Göttin, deren Name auf ägyptisch Neith lautet; das ist auf griechisch, wie sie behaupten, Athena; sie sagen deshalb, sie seien große Freunde der Athener und gewissermaßen mit ihnen verwandt. Solon erzählte nun, er sei bei seiner Ankunft dort mit großen Ehren von ihnen empfangen worden; als er sich aber einmal bei den Priestern, die am besten davon Kenntnis hatten, über die Altertümer erkundigte, da sei es ihm beinahe so vorgekommen, als ob er selbst und auch jeder andere Grieche sozusagen gar nichts von diesen Dingen wüßte. Und eines Tages, als er sie zu einem Bericht über die Urzeit veranlassen wollte, da habe er das so angepackt, daß er ihnen von den frühesten Begebenheiten hier erzählte: von Phoroneus, der für den ältesten Menschen gilt, und von Niobe, und er habe den Mythos von der großen Flut erzählt und wie Deukalion und Pyrrha davongekommen seien und welche Geschlechter von ihnen abstammten, und schließlich habe er versucht, sich daran zu erinnern, wie manches Jahr das einzelne, wovon er berichtete, gedauert habe, und so die Zeit auszurechnen. Da habe ein ganz alter Priester ausgerufen: "Oh Solon, Solon, ihr Griechen bleibt doch ewige Kinder; einen alten Griechen gibt es ja überhaupt nicht."

Als er das hörte, fragte er: "Wie meinst du das?"

"Ihr seid alle jung in eurer Seele", habe er erwidert, "denn ihr habt in ihr keine urtümliche Meinung, die aus alter Überlieferung stammt, nach irgendein altersgraues Wissen. Und das ist der Grund davon: Schon manchesmal und auf viele Arten ist die Menschheit vernichtet worden und wird auch wieder vernichtet werden, am gründlichsten durch Feuer und durch Wasser, und in geringerem Maße auf tausend andere Arten. Denn was auch bei euch berichtet wird, wie einst Phaethon, der Sohn des Helios, den Wagen seines Vaters anschirrte und wie er dann, weil er nicht auf dessen Spur fahren konnte, alles auf der Erde verbrannte und selbst, vom Blitz getroffen, vernichtet wurde, das klingt, so wie ihr es erzählt, ganz nach einem Märchen; doch liegt schon etwas Wahres darin, nämlich die Abweichung der Gestirne, die am Himmel um die Erde kreisen, und, jeweils nach Ablauf langer Zeitläufe, die Vernichtung alles dessen, was es auf der Erde gibt, durch ein großes Feuer. Alle, die auf den Bergen und an den hoch gelegenen und trockenen Orten wohnen, werden dann eher vernichtet als die anderen, die nahe bei den Flüssen und Meeren wohnen; uns aber bewahrt in diesem Falle der Nil, der auch sonst unser Retter ist, und befreit uns aus dieser Not, indem er über die Ufer tritt. Wenn dagegen die Götter die Erde mit Wasser überschwemmen, um sie zu "reinigen" , so können sich nur die Rinderhirten und Schafhirten auf den Bergen retten, während jene, die bei euch in den Städten wohnen, von den Fluten ins Meer geschwemmt werden. Hierzulande aber strömt das Wasser weder dann noch sonst je von oben über die Felder, sondern es ist umgekehrt so, daß alles von unten in die Höhe steigt. Daher und aus diesen Gründen erhalten sich hier die Dinge und werden für die ältesten angesehen; in Wahrheit verhält es sich aber so, daß an allen Orten, wo dies nicht übermäßige Kälte oder Hitze verhindert, eine bald größere, bald kleinere Zahl von Menschen lebt. Wenn wir aber gehört haben, daß sich bei euch oder hier oder sonst irgendwo etwas Schönes oder Großes oder irgendwie Bemerkenswertes abgespielt hat, so ist das alles hier von alters her in unseren Tempeln aufgezeichnet worden und damit erhalten geblieben; bei euch und bei anderen Völkern aber ist es so: Gerade wenn ihr jeweils mit der Schrift und mit allen anderen Erfordernissen einer Stadt eben versehen seid, so kommt nach dem üblichen Abstand der Jahre wie eine Krankheit die Flut wieder vom Himmel gestürzt und läßt nur die von euch übrig, die sich weder auf die Schrift noch auf die Musenkunst verstehen, so daß ihr gewissermaßen immer wieder aufs neue jung werdet, ohne jedes Wissen von all den Ereignissen hier bei uns und bei euch, wie sie sich in den früheren Zeiten begeben haben. Jedenfalls was du uns jetzt eben über die alten Geschlechter bei euch zu Hause erzählt hast, bester Solon, das unterscheidet sich nur wenig von Kindermärchen. Denn erstens erinnert ihr euch nur an eine Überschwemmung der Erde, obgleich es früher schon manche gegeben hat. Und dann wißt ihr auch nicht, daß das schönste und beste Geschlecht unter den Menschen eurem Lande entsprossen ist, das, von dem du und eure ganze heutige Stadt herstammt, indem sich einst ein kleiner Same von ihnen erhalten hat; das ist euch im Gegenteil alles verborgen geblieben, weil die Überlebenden während vieler Generationen dahingingen, ohne daß sie sich durch die Schrift vernehmbar machen konnten. Denn es gab einst eine Zeit, Solon, noch vor der größten Vernichtung durch das Wasser, da war die Stadt, die heute die athenische heißt, nicht nur am tüchtigsten zum Kriege, sondern sie besaß auch in jeder Hinsicht die weitaus beste Verfassung; man erzählt von ihr die schönsten Taten und sagt, sie hätte die besten politischen Einrichtungen gehabt von allen unter dem Himmel, über die wir je Kunde erhalten haben."

Solon habe nun das, wie er erzählte, mit Verwunderung angehört und dann die Priester mit allem Nachdruck gebeten, sie sollten ihm alles über seine Mitbürger aus der Frühzeit genau der Reihe nach berichten.

Der Priester habe darauf erwidert: "Es soll dir nichts vorenthalten werden, Solon, sondern ich will es dir mitteilen, schon deinetwegen und um eurer Stadt willen, vor allem aber der Göttin zu Dank, die sowohl eure als auch unsere Stadt zu eigen erhalten hat und sie groß werden ließ und heranbildete, die eure freilich, deren Samen sie von (der Erdgöttin) Ge und von Hephaistos bekam, um tausend Jahre früher, die uns“rige dagegen erst später. Seit diese hier eingerichtet ist, sind achttausend Jahre verflossen; so ist die Zahl in den heiligen Schriften eingetragen. Über die Gesetze deiner Mitbürger also, die vor neuntausend Jahren gelebt haben, will ich dir in Kürze Auskunft geben und auch von der schönsten ihrer Taten, die sie vollbracht haben. Die genauen Einzelheiten von alledem wollen wir dann ein anderesmal der Reihe nach in aller Ruhe besprechen und dabei die schriftlichen Aufzeichnungen selbst zur Hand nehmen. Betrachte nun ihre Gesetze anhand der uns“rigen hier. Denn du wirst hier zahlreiche Beispiele von solchen finden, die damals bei euch gegolten haben: Erstens einmal, daß es einen Stand der Priester gibt, der von den anderen abgesondert ist; dann die Handwerker, von denen jeder Stand für sich allein und nicht mit den anderen zusammen sein Gewerbe treibt, sowie den der Hirten und den der Jäger und den der Bauern. Vor allem aber ist dir sicher aufgefallen, daß hier der Stand der Krieger von allen anderen getrennt ist und daß er von Gesetz wegen keinen anderen Auftrag hat als sich um die Kriegführung zu kümmern. Und weiter, daß seine Bewaffnung aus Schild und Speer besteht, mit denen wir als erste in Asien ausgerüstet waren; denn die Göttin hat sie uns gezeigt, so wie sie sie in euren Ländern zuerst euch gezeigt hat. Was ferner den Geist betrifft; so siehst du doch, welch große Sorgfalt das Gesetz bei uns hier gleich von Anfang an für ihn und für seine Ausbildung aufgewendet hat, indem es bis hin zur Wahrsagerei und zur Heilkunst, die zu unserer Gesundheit da ist, von diesen Dingen, die göttlicher Natur sind, alles zum menschlichen Gebrauch aufspürte und sich dann auch in den Besitz aller anderen Wissenschaften setzte, die sich an diese anschließen.

Diese ganze Anordnung und Einrichtung hat nun also die Göttin zuerst bei euch getroffen und damit eure Stadt gegründet, nachdem sie den Ort, wo ihr geboren seid, ausgewählt hatte; dabei nahm sie dort Rücksicht auf die günstige Mischung der Jahreszeiten, die dazu geeignet war, die verständigsten Männer hervorzubringen. Weil nun die Göttin eine Freundin des Krieges und der Weisheit ist, wählte sie einen Ort, der Männer hervorzubringen versprach, wie sie ihr am meisten zusagen, und legte dort ihre erste Siedlung an. Ihr hattet jetzt also euren Wohnsitz, genosset solche Gesetze und waret auch sonst wohl eingerichtet und übertraft in jeder Art von Tüchtigkeit alle anderen Menschen, wie es sich von denen erwarten läßt, die von Göttern abstammen und von ihnen erzogen worden sind.

Von vielen großen Taten, die ihr und eure Stadt vollbracht habt, liest man hier mit Bewunderung; doch eine ragt unter allen durch ihre Größe und Heldenhaftigkeit hervor. Die Aufzeichnungen berichten nämlich, wie eure Stadt einst einer gewaltigen Macht das Ende bereitet hat, als diese vom Atlantischen Meer aufgebrochen war und in ihrem Übermut gegen ganz Europa und Asien zugleich heranzog. Damals konnte man nämlich das Meer dort noch befahren; denn vor der Mündung, die ihr in eurer Sprache die Säulen des Herakles nennt, lag eine Insel, und diese Insel war größer als Libyen und Kleinasien zusammen. Von ihr gab es für die Reisenden damals einen Zugang zu den anderen Inseln, und von diesen auf das ganze Festland gegenüber rings um jenes Meer; das man wahrhaft so bezeichnen darf. Denn alles, was innerhalb der erwähnten Mündung liegt, erscheint wie eine Hafenbucht mit einer engen Einfahrt, jenes aber kann man wohl wirklich als ein Meer und das darum herum liegende Land in Tat und Wahrheit und in vollem Sinne des Wortes als ein Festland bezeichnen.

Auf dieser Insel ATLANTIS nun gab es eine große und bewundernswerte Königsherrschaft, die sowohl über die ganze Insel als auch über viele andere Inseln und über Teile des Festlandes ihre Macht ausübte; zudem regierten diese Könige auf der gegen uns liegenden Seite über Libyen, bis gegen Ägypten hin, und über Europa bis nach Tyrrhenien. Diese ganze Macht also versammelte sich einst zu einem Heereszug und machte den Versuch, sich das ganze Gebiet bei euch und bei uns und alles, was diesseits der Mündung liegt, in einem einzigen Ansturm zu unterjochen. Damals nun, Solon, wurde die Kraft eurer Stadt mit ihrer Tüchtigkeit und Stärke vor allen Augen sichtbar; sie tat sich vor allen anderen durch ihren Mut und durch ihre Kriegskunst hervor, und so stand sie zuerst an der Spitze der Griechen; als dann aber die anderen abfielen und sie notgedrungen auf sich allein gestellt war und dadurch in die äußerste Gefahr geriet, da zeigte sie sich den herannahenden Feinden überlegen und konnte ein Siegeszeichen errichten; jene, die noch nicht unterworfen waren, bewahrte sie vor der Unterwerfung, und uns anderen allen, die wir diesseits der Säulen des Herakles wohnen, schenkte sie großzügig die Freiheit wieder. In der darauffolgenden Zeit aber gab es gewaltige Erdbeben und Überschwemmungen; es kam ein schlimmer Tag und eine schlimme Nacht, da eure ganze Streitmacht mit einem Male in der Erde versank, und ebenso versank auch die Insel ATLANTIS im Meer und verschwand darin. Deswegen kann man noch heute das Meer dort weder befahren noch erforschen, weil in ganz geringer Tiefe der Schlamm im Wege liegt, den die Insel, als sie sich senkte, zurückgelassen hat."«

Hier endet der erste Teil von Platons ATLANTIS - Erzählung, so wie sich Kritias

nach von Solon stammenden Notitzen an sie erinnert.

Peter Kahllund, 2000 "Alte Schmiede" Schwesing-Bahnhof

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