An Andres, wegen neuer Erfindung.

Hab´ eine neue Erfindung gemacht, Andres, und soll Dir hier so warm mitgeteilt werden.

Du weißt, daß in jeder gut eingerichteten Haushaltung kein Festtag ungefeiert gelassen wird und daß ein Hausvater zulangt, wenn er auf eine gute Art und mit einigem Schein des Rechtes einen neuen an sich bringen kann. So haben wir beide außer den respektiven Geburts- und Namenstagen schon verschiedene and´re Festtage an unseren Höfen eingeführt; als das Knospenfest, den Widderschein, den Maimorgen, den Grünzüngel, wenn die ersten jungen Erbsen und Bohnen gepflückt und zu Tisch gebracht werden sollen, und so weiter. . .

Nun ist wohl wahr, daß der Sommer und sonderlich das Frühjahr viel schön sind. Gleich wenn der Winterschnee auftaut und man den bloßen Leib der Erde zum erstenmal wiedersieht, fängt diese Vielschönheit an und geht dann immer mit größeren Schritten fort, bis Blumen und Blätter aufgeblüht sind und der Mensch willtöricht vor dem vollen Frühling steht. Und also sind die Frühlings- und Sommerfesttage gar sehr am rechten Ort, ich habe nichts dawider. Es ist mir aber doch immer schon vorgekommen, daß im Herbst und Winter auch was zu machen wäre; nur habe ich die Sache noch nie recht in´s Klare bringen können.

Gestern aber, wie das mit den Erfindungen ist: man findet sie nicht, sondern sie finden uns - - gestern, als ich im Garten gehe und an nichts weniger denke, schießen mir mit einmal zwei neue Festtage auf´s Herz: der Herbstling und der Eiszäpfel, beide gar erfreulich und nützlich zu feiern.

  Der Herbstling ist nur kurz und wird mit Bratäpfeln gefeiert. Nämlich: wenn im Herbst der erste Schnee fällt - - und darauf muß genau achtgegeben werden - - nimmt man so viel Äpfel als Kinder und Personen im Hause sind und noch einige darüber, damit, wenn ein Dritter dazu käme, keiner an seiner Quote gekürzt werde, tut sie in den Ofen, wartet, bis sie gebraten sind, und ißt sie dann. So simpel das Ding anzusehen ist, so gut nimmt sich´s aus, wenn´s recht gemacht wird. Und soviel vom Herbstling.
     
Der Eiszäpfel will nun wieder ganz anders traktiert sein und hat seine ganz besond´ren Nücken. Mancheiner denkt wohl: Wenn er Eiszapfen am Dach sieht, könne er nun gleich anfangen zu feiern; aber weit gefehlt, es wird mehr dazu erfordert. Der Eiszäpfel kann durchaus ohne einen Schneemann nicht gefeiert werden, und dazu muß, erstmal Schnee sein und Tauwetter kommen, daß, der Schneemann gemacht werden kann; und wenn er gemacht ist und vor dem Fenster steht, muß, es wiederum frieren, damit Eiszapfen am Dach wachsen, eine halbe Elle lang, nicht länger und nicht kürzer.

Was sagst Du nun, Andres ? Gelt, das ist´n intrikates Fest ! Es geht auch mancher Winter darüber hin, ohne daß eins zustande kommen kann. Wenn nun aber obige Umstände alle eingetreten sind und sonst kein merkliches Hindernis im Wege ist, so kannst Du denn zwischen drei und vier Uhr nachmittags das Fest angehen lassen; das übrigens von Anfang bis zu Ende mit trockenem Munde gefeiert wird. Nach vier, wenn´s dunkel geworden ist, wird eine Laterne in den hohlen Kopf des Schneemannes getan, daß das Licht durch die Augen und den Mund herausscheint - - und dann geht groß und klein auf und ab im Zimmer und sieht aus dem Fenster unter den Eiszapfen hin nach dem Schneemann und denkt dabei an eine(n) andere(n) Schneefrau(mann), einjeder nach dem ihm der Schnabel gewachsen ist, und das ist der höchste Moment der Feier des Eiszäpfel.

Lebe wohl, lieber Andres, und fei´ re fleißig alle Festtage und heiligen Abende, bis der rechte Heiligabend anbricht. Es grüßt Dich Dein Matthias.

Matthias Claudius 1740 bis 1815 - revidiert von Peter Kahllund, Rosendahl 2001

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