Abseits von Husum

Die Wintersonne lag über der Heide; sie spiegelte sich in den blanken Fensterscheiben eines neuen strohgedeckten Hauses, das in diese Einsamkeit wie hingestellt war auf die braune, unabsehliche Decke des Heidekrautes. Nur seitwärts dahinter lag noch eine mäßig große Scheune, und neben derselben, dem Tor des Hauses gegenüber, ragte die lange Soodstange eines Brunnens in die Luft. Ein paar Schritte weiter ein niedriger Wall aus Sand und Steinen, der sich auch nach vorne um das Haus herumzog; und dann wieder nichts als der leere Himmel und die braune, gleichmäßige Ebene.

Das Gehöft lag in dem nördlichsten deutschen Lande, das nach blutigem Kampfe jetzt mehr als jemals in der Gewalt des bekannten Nachbarvolkes war. Erbaut war es vor wenigen Jahren von einem wohlhabenden Kaufmann der kleinen Hafenstadt, deren Turmspitzen man aus den Fenstern der Vorderstube am Horizont erblickte. - - Bald nach Beendigung des unglücklichen Krieges hatte er von mehreren Gemeinden, deren Feldmark hier zusammenstieß, die nicht unbeträchtlichen Bodenstrecken käuflich erworben.

Die Lage war für die Entstehung einer ländlichen Hofstelle günstig; denn einen Büchsenschuß nördlich von dem jetzt dort mit der Frontseite gegen Abend schauenden Hause schlängelt sich ein mäßig breiter, fischreicher Mühlenstrom durch die Heide, abwärts einem Stausee zu, der sein ovales Becken bis fast an die Stadt erstreckt.

Aber noch ein anderes mochte der weitsichtige Mann bei Abschluß seines Kaufes in Rechnung genommen haben. Die dīrunten vor der Stadt am Mühlendamm des Sees gelegene herrschaftliche Wassermühle benötigte, durch Aufstockung einer Windmühle und Einbau einer der neumodischen Dampfmaschine, wesentlich geringere Wassermassen, als der an Untiefen leidende alte See herzugeben vermochte. Durch die Anlage eines Kanals konnte die Mühle das restliche Wasser besser nutzen. Und als bald darauf unten im Stausee die Arbeiter den ersten Spatenstich taten, ließ auch der Herr Senator südlich desselben die Gebäude auf seiner Heide bauen; denn nun hatte er die Gewißheit, das sumpfige Stromufer in grasreiche Wiesen verwandeln zu können. Noch im Herbste desselben Jahres standen das Wohnhaus mit der kleinen Tenne und dem Milchkeller und hinter demselben die Scheune mit den Stallräumen für das Vieh fertig da. Im Frühjahr darauf zogen die Kolonisten ein; in das Haus ein alter Knecht, eine kleine Magd und eine ältere Mamsell, ein altes Inventarienstück der Familie. Der Stallraum der Scheune wurde von zwei Ponys und einer Kuh bezogen; den Wassertümpel, der zwischen dieser und dem Wohnhaus lag, wußte die Mamsell schnell mit einer schnatternden Entenschar zu bevölkern, und auf dem Dunghaufen, der sich allmählich daneben erhob, krähte ein goldfarbiger Hahn mit einem halbdutzend scharrender Hennen. Für die Wachsamkeit des Gehöftes und sich zur Gesellschaft hatte außerdem der alte Marten noch einen kleinen Dachshund aufgezogen. - - Mit diesen Kräften begann die allmähliche Urbarmachung des neuen Besitzes; und schon glänzten dīrunten gegen den alten Mühlstrom hin überall die sorgfältig gezogenen, neuen Abzugsgräben; und das zum erstenmal in dieser Jahreszeit nicht überschwemmte Wiesenland versprach auf den Sommer eine reiche Heuernte.

Im Wohnhause selbst war hinter dem nach vornī hinaus liegenden Stübchen der Haushälterin ein großes Zimmer für die Herrschaft eingerichtet und nicht allein mit Tisch und Stühlen, sondern sogar mit einem stattlichen Sofa versehen, das freilich für gewöhnlich von der Mamsell sorgsam mit einem weißen Tuch verhüllt gehalten wurde.

So konnte der Senator in der Sommerzeit aus der unheimlich gewordenen Stadt mitunter doch in eine Stille entfliehen, wo er mit den Seinen sicher war, wo im Glanz der Julisonne die blühende Heide begann, wo singend aus dem träumerischen Duft die Lerche emporstieg, und dīrunten über den alten Seeresten die weißen Möwen schwebten. Aber drüben, am jenseitigen Ufer schnaubte und prustete am Tage ein gar wunderliches Ungetüm mit einer Reihe Wagen im Schlepp in denen sogar Menschen mitreisen konnten hin und von der kleinen Stadt. Der König nannte sie Eisenbahn und hatte dieses neumodische Dampfmobil von England eingeführt und bauen lassen, aber von hier aus der Entfernung war das rasende Gefährt ein höchst imposantes Schauspiel.

Jetzt war es Winter, aber wie so oft hier in Meeresnähe, ein weicher, nasser Tag ohne Frost und Schnee; obgleich es der Nachmittag des Weihnachtsabend war. Dīroben das Haus stand leer, bis auf die Hühner, die in der matten Wintersonne sich vor der Tür im Sande streckten; die ganze kleine Menschenbesatzung schwamm dīrunten auf dem alten Mühlstrom in einem Flachboot, welches eben in eine schilfreiche Bucht hintriebt. In dem Boot kauerte die Magd neben einem Kübel, der schon mit Hecht und Karpfen fast gefüllt war; dahinter stand ein älteres Frauenzimmer in einem dunklen Wollkleid. Sie schirmte ihre Augen mit der Hand, denn vor ihnen lag die tiefe Sonne blendend auf dem Wasserspiegel. "Sind Seine Reusen noch nicht alle, Marten ?" fragte sie.

"Kann bald werden, Mamsell", sagte der alte Knecht, indem er die Ruderstange gemächtlich auf den Grund stieß. Seitwärts im Schilf wurde das Gekläff eines Hundes hörbar. Marten, indem er selbstzufrieden nickte, zog die Stange ein und faßte rasch nach der Flinte, die neben ihm im Boot lehnte. In dem selben Augenblick brauste dicht vor ihnen eine Wildente aus dem Schilf; der Knecht wandte sich, und während die beiden Frauen einen Schrei ausstießen, knallte auch schon der Schuß über ihre Köpfe hin. Als sie sich umblickten, sahen sie den gelbbraunen Vogel unweit des Bootes scheinbar unverletzt auf dem Wasser schwimmen, das blanke, schwarze Auge unverwandt auf sie gerichtet. Als aber Marten Miene machte, mit dem Boot in seine Nähe zu kommen, tauchte er dicht am Schilfrand unter und verschwand. "Die beißt sich in den Grund", sagte der Alte verdrießlich und ließ die Arme hängen, "das sind schlaue Kreaturen, Mamsell."

Die Haushälterin sah mit einem Blick des Mitleids auf die Stelle, wo die Ente verschwunden war. "Wenn Er nur Seine alte Donnerbüchse zu Hause lassen wollte", sagte sie. "Ei ja, Mamsell, der gebratene Entenvogel hätte morgen doch gut geschmeckt !" Dann wies er mit der Hand nach dem jenseitigen Ufer auf einen Strich verkrüppelten Buschwerks, das sich weit hinaus in die Heide dehnte, nur mitunter durch kleine Wassertümpel unterbrochen. "Dort liegen auch Bekassinen", fuhr er fort, "das gäbī einmal ein Herrengut, wenn wir den Eichenbusch noch dazu hätten !"

"Wem gehörtīs denn, Marten ?" "Dem Bauernvogt unten im Dorf; er will hoch damit hinaus; aber der Herr sollt es nicht fahren lassen; denn da steckt auch der Mergel - - und den brauchen wir." Mit diesen Worten hatte er die letzte Reuse aus dem Wasser gezogen und, da nur allerlei kleines Zeug darin zappelte, nach Befreiung der Gefangenen wieder hinab gelassen. Zugleich war auch der kleine Hund aus dem Schilf inīs Boot gesprungen und sah schüttelnd und prustend zu seinem Herrn empor. "Auf ein andermal, Teckel", sagte Marten, seinem Liebling auf das nasse Fell klopfend, "unsere Beine waren für dieses Mal zu kurz." Er hatte das Boot gewendet und schob es wieder den Mühlstrom aufwärts. Unterhalb des Gehöftes stiegen sie an Land, zuerst auf einzelnen Feldsteinen, halb im Wasser über die Wiese gehend, dann eine Strecke noch durch braunes Heidekraut bis zu dem niederen Wall, der das Gehöft von der umgebenen Ebene trennte.

Bald darauf hantierte die Magd mit dem Wasserkessel in der Küche, während Marten die gefangenen Fische zwischen Graslagen in einen Korb verpackte, um sie der Herrschaft zur Abendtafel in die Stadt zu bringen. Die Haushälterin trat in die Stube; gegenüber auf der alten Standuhr schlug es eben zwei. - - Nachdem sie sich einen Augenblick die verklommenen Finger an dem Kachelofen gewärmt hatte, trat sie an eine messingbeschlagene Kommode und nahm aus verschiedenen Schubladen derselben ein neues schwarzes Wollkleid, eine schneeweiße Haube und ein seidenes Tuch. "Es ist doch Heiligabend !" sagte sie für sich. - - Auch erwartete sie ja noch Besuch; nicht nur die Weihnachtsbriefe von ihrem Bruder, einem wohlstehenden Kaufmann in einem deutschen Nachbarlande, und dessen einzigem Sohne, der seit einigen Jahren auf einem größeren Gute die Landwirtschaft erlernte, sondern auch den alten Lehrer dīrunten aus dem Dorf, wohin der Fußsteig hier vorbei über die Heide führte. Sie hatte ihn, da er am Vormittag in die Stadt ging, gebeten, die Briefe für sie von der Post mitzubringen. - - Nun müßte er bald zurück sein; und er hatte ja auch im vorigen Jahr sich zu einem Schälchen Kaffee Zeit gelassen. - - Nachdem sie dann noch eine frische Serviette über das unter dem Fenster stehende Tischchen gebreitet hatte, ging sie mit ihren Festkleidern in das nebenan liegende Schlafkämmerchen, um sich anzukleiden.

Es war eine halbe Stunde später. Marten und der Teckel waren mit den Fischen in die Stadt gegangen, nachdem ersterer noch das Fell eines kürzlich erlegten Fischotters über den Rücken gehangen hatte, das er bei dieser Gelegenheit zu verwerten dachte. In dem Stübchen dīrinnen stand auf der weißen Serviette ein sauberes Kaffeegeschirr; die vergoldeten Tassen und die Bunzlauer Kaffeekanne blinkten in den schrägfallenden, winterlichen Sonnenstrahlen.

Theodor Storm, 1817 bis 1888 - etwas modernisiert und verkürzt von Peter Kahllund, Rosendahl 2001

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